Über Eltern und die Angst in unseren Schulen 29.08.2017 / G. R. Pelz
„Kritikfähigkeit im Schulsystem”
Ein höchst ungewöhnlicher Praxistest – erste Ergebnisse

Schüler sollen den Umgang mit Kritik erlernen. So steht es in den staatlichen Lehrplänen, Verordnungen oder Schulprogrammen. Doch wie ist es um die eigene Kritikfähigkeit jener staatlichen Erzieher, Schulaufsichtsbehörden und Politiker bestellt, die diese Lehrpläne umzusetzen haben, für deren Inhalt sie verantwortlich zeichnen? Orientieren sie sich auch selbst an jenen Maßstäben, mit denen sie andere messen und bewerten?
Bildungskontext erarbeitete zusammen mit Academy of science and education e.V., Dialog in Bildung und Schulkritik e.V. (gemeinnützige Vereine zur Qualitätsverbesserung im Bildungsbereich) ein außergewöhnliches Konzept (→ Methoden). Nach einer längeren Vorlaufphase wurde es sechs Monate lang, von Oktober 2014 bis April 2015, mit wissenschaftlicher Begleitung einem Praxistest unterzogen. Planung, Koordination und Reaktion erfolgten über ein dynamisch anzupassendes „Wirkungsnetz”.
Zielsetzung waren informative Antworten und mögliche Erklärungen zur Frage, wie im Schulsystem Verantwortliche – also Schulleitung, Schulaufsicht und Kultusministerium – auf Beschwerden und Kritik reagieren und damit umgehen. Fernziel sind Verbesserungen der Kritikfähigkeit aller Akteure im Schulsystem und ein effektiveres Konfliktmanagement.
Herausgekommen ist eine Fülle hochinteressanter Daten über das Verhalten von Schülern, Eltern, Lehrern, Schulleitern, Bediensteten von Schulamt und Kultusministerium, Parteien und Politikern, Netzwerken, örtlichen Medien und der Öffentlichkeit. Die Ergebnisse dieses „Praxistests” werden zur Zeit noch ausgewertet, diskutiert, bewertet und später publiziert, um einen neuen Baustein zur Beendigung der Bildungsmisere bereitzustellen und zu weiteren Bemühungen anzuregen.
Allen Mitwirkenden sei für ihre wertvollen Informationen und Hinweise gedankt!
Kurze Zusammenfassung einiger Ergebnisse:
Schüler und Eltern äußerten z. T. heftige Kritik und tendierten aufgrund von individuellen Erfahrungen dazu, in positiver oder negativer Hinsicht zu verallgemeinern. Von ihnen kamen die meisten Rückmeldungen. Auch Pädagogen schienen äußerst unzufrieden, vermieden jedoch konkrete Äußerungen und nannten nur wenig Details. Wissenschaftler verwiesen zunächst auf eigene Publikationen. Zudem waren sie auf positive Bescheide über ihre Anträge für Forschungsgelder angewiesen und daher sehr zurückhaltend. Politiker verhielten sich uneinheitlich: Es entstand der Eindruck, dass jene Chancen, die sich ihnen im Bildungsbereich bieten, von den bürgerlichen Parteien zu wenig wahrgenommen werden, während sich verschiedene privatrechtliche Organisationen an den Rändern der Gesellschaft sehr intensiv um positive Änderungen bemühen.
Die heftigste Bildungskritik kam von jenen Politikern und Pädagogen, die keine Nachteile mehr zu befürchten hatten, weil sie sich schon im Ruhestand befinden. Wie es scheint, fassen sie erst dann den Mut, gegen Missstände aufzubegehren.
- Schüler und Eltern (mit negativen Schul-Erfahrungen)
Wurden Vorgänge in der Schule als negativ empfunden, ergab sich eine nahezu uneingeschränkte Zustimmung zu den Methoden von Schulkritik. In oft heftigen und drastischen Äußerungen und Reaktionen wurde auf weitere Begebenheiten in ähnlichem oder anderem Zusammenhang hingewiesen. Allen Fällen gemeinsam war das Gefühl der Ohnmacht. Es überwog der Wunsch nach einer Fortführung des Schulkritik-Konzepts und auch nach einer härteren Vorgehensweise.
- Schüler und Eltern (mit positiven Schul-Erfahrungen)
Auch die Ansicht, Schulkritik sei überzogen und würde zu wenig differenzieren, wurde aus einer ganz bestimmten Perspektive heraus geäußert – und zwar von jenen, die in ihrem persönlichen Umfeld mit den ihnen bekannten Pädagogen zufrieden waren. Es bestand der Wunsch nach einer ausgewogeneren Darstellung der negativen wie auch positiven Seiten. Ungeachtet, ob dies hier möglich oder sinnvoll sei, lauteten die typischen Argumente: „Man kann nicht alles nur schlecht machen” und „Es gibt auch eine Vielzahl guter Schulen und hervorragender Lehrer”.
- Lehrer und Schulleiter
Diese hielten sich extrem zurück und äußern sich nur selten öffentlich oder im offenen Gespräch, meist weder positiv noch negativ. Völlig anders dagegen in privaten Kreisen und untereinander: Nahezu alle sind verärgert und berichten über Stress und schlechtes Arbeitsklima, Mobbing unter Kollegen, Ärger mit Vorgesetzten / Bediensteten, unkorrigiertes Fehlverhalten gegenüber Schülern und Eltern, unzumutbare Lehr- und Zeitpläne und andere Unannehmlichkeiten. Gründe für ihre Verschwiegenheit sind neben Dienstrecht und Karrieredenken das ausgeprägte Gefühl, alleine nichts bewirken zu können.
- Wissenschaftler (im Dienst)
Aktive Wissenschaftler zeigten die Mängel im Bildungssystem zwar deutlich auf, mischen in der Praxis vor Ort jedoch nur selten mit. Viele fühlen sich in der Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen verpflichtet und erhalten öffentliche Förderung und Aufträge. Dies wird zumindest in Privatgesprächen offen zugegeben, zugleich jedoch bedauert. Einerseits wissen sie um die realen Verhältnisse an unseren Schulen, andererseits sehen sie keine Chance, wirksame Konzepte gegen „politische Zwänge” durchzusetzen.
- Emeritierte Wissenschaftler und Praktiker im Ruhestand
Wenn berufliche Verpflichtungen und Sachzwänge nachlassen, scheint der Mut zu kritischen Äußerungen anzusteigen. Unter großem Anklang in den Medien melden sich in der Bildungsdiskussion immer häufiger erfahrene Praktiker und Theoretiker zu Wort. Rücksichtnahmen, Hemmnisse und Beschränkungen spielen bei diesen kaum noch eine Rolle. Von dieser Seite kommt die derzeit heftigste Kritik an Mängeln im deutschen Bildungssystem.
- Politiker und Behörden
Auf der Bildungsmesse „didacta” kritisierten Politiker aus verschiedenen Bundesländern, Schulkritik würde sich an höchste Stellen wenden und nicht den „Dienstweg” einhalten. Daß Schulämter für eine Antwort bis zu drei Monaten benötigen, sei hierbei hinzunehmen. Die Behörden erklärten solches Verhalten mit Überlastung. Der Vorwurf, Beschwerden würden zumeist vom Schreibtisch aus entschieden und auf Ermitttlungen verzichtet, wurde durch Mitarbeiter bestätigt, offiziell jedoch zurückgewiesen.
Ein derart ausgeprägtes und vor allem unterschiedliches Echo hatten die Mitwirkenden von Schulkritik nicht erwartet. Dementsprechend wurde auch hier sehr intensiv darüber diskutiert, ob sich der eingeschlagene Weg im Praxistest für einen Dauereinsatz eignet und was vielleicht verbessert werden könnte.
Im Konzept war vorgesehen, Kritikfähigkeit anhand von negativen Ereignissen darzustellen und zu dokumentieren. Die von Schulkritik veröffentlichten Vorgänge waren real und fertig abgehandelt, d. h. Betroffene hatten sich geäußert und Beschwerde eingereicht, die Schulaufsicht gab ihre Stellungnahme ab und traf dann die Entscheidung. Wurde ein Anliegen abgewiesen, ließ sich auf dieser Basis über Recht und Unrecht diskutieren. Bisher war eine solche Möglichkeit aufgrund von fehlender Transparenz verwehrt.
Natürlich hätte Schulkritik auch positive Beispiele aufzeigen und dazu anregen können, solchen nachzueifern. Doch dies geschieht bereits genau so lange, wie die Bildungsmisere andauert, also über 40 Jahre: Vorzeigeschulen, prämierte Lehrer und Klassen, Alternative Schulformen, Schülerwettbewerbe, Schulfeste usw. sind in jeder örtlichen Tageszeitung und auf allen Schul-Webseiten zu finden. Auch von Schulträgern und Politikern stammen ausschließlich positive Äußerungen und euphorische Lobeshymnen, die den Eindruck vermitteln, in unserem Schul- und Bildungssystem gäbe es keine ernsthaften Probleme. Verbesserungen im Ursachen- und Wirkungsgefüge unseres Bildungssystems lassen sich mit dieser Art von positiven Beispielen nicht erzielen. Es mag dem einen oder anderen Schulleiter oder Lehrer in bester Absicht zwar gelingen, sich an vorhandenen Vorbildern zu orientieren. Die Trägheit des Systems kann ohne Nachdruck aber nicht behoben werden.
Zur Illusion perfekter Schule gehört Verhinderung von Transparenz! Gelangt nichts an die Öffentlichkeit, scheint alles in Ordnung. Wo alles in Ordnung ist, erübrigt sich jegliche Änderung oder Verbesserung – und auch jede Kritik!
Hier genau liegt das Dilemma im Bildungswesen: Die Frage, was denn eigentlich im Argen liegt, wird nur selten genauer als „allgemein” beantwortet. Dem theoretischen Unterbau mangelt es an realen Beispielen! Aufgrund von fehlender Transparenz ist nicht erkennbar, welche Probleme oder Unzulänglichkeiten an welcher Stelle (Schule) existieren und wie sie miteinander zusammenwirken. Bisherige Programme zur Verbesserung im Bildungswesen scheiterten denn auch an einer Nichtbeachtung jener unauffälligen Details, die als wichtige Bausteine im stark vernetzten Wirkungsgefüge der Bildungsvermittlung gewaltige Kraft entfalten können.
Schulkritik setzte sich über das allgemeine Schweigen hinweg, blieb nicht „allgemein” und nannte konkrete Beispiele. Das Wagnis dieses unerhörten Verhaltens entrüstete Schulleiter, Schulaufsicht und Kultusministerien. Diese fühlten sich angegriffen und reagierten mit den üblichen und bewährten Abwehrmaßnahmen. Dagegen verspürten betroffene Schüler, Eltern und auch Lehrer plötzlich Rückhalt und Hilfe.
Nicht in allen, aber in vielen Fällen kam es nun zu einer überraschenden Entwicklung: Sobald der Schulkritik-Verein sich in Konflikte einschaltete, wurden das Klima in den Schulen freundlicher, Auskünfte umfassender, rechtliche Hinweise detaillierter und verständlicher. Bewirkte Schulkritik ein verändertes Konfliktverhalten? Fehler und vor allem deren Wiederholung wurden vermieden und auch problematische Angelegenheiten ließen sich in kürzester Zeit für alle Seiten zufriedenstellend lösen.
War das die Lösung? Stimmt hier noch die Richtung? Pädagogen argumentierten, es gäbe nur die schnelle Hilfe für einzelne Betroffene, doch diese wäre unbefriedigend. Das Verhalten jener Lehrer oder Schulleiter wäre mit Schülern zu vergleichen, die ein Fehlverhalten zwar nicht einsehen, doch aus Angst vor Strafe vermeiden. Läßt der Druck dann nach, ist alles wie zuvor, denn es mangelt an der tieferen Einsicht. Eingelenkt würde nur mit Druck, wenn etwa eine öffentliche Bloßstellung droht. Von einer „positiven Entwicklung” könne daher nur bedingt die Rede sein.
Andere Schulleiter und auch Schulbehörden schätzten das Schulkritik-Projekt falsch ein, ließen sich verwirren und griffen oft daneben. Das neue hessische Kultusministerium sah eine Lösung in der Vogel-Strauß-Politik, indem es Anliegen und Beschwerden ignorierte und keine mehr beantwortete. Ein Schulleiter lehnte der alleinstehenden Mutter einer türkischstämmigen Tochter die Begleitung einer Vertrauensperson bei einer Eltern-Lehrer-Besprechung ab – der vorgesehene Begleiter war Mitglied von Schulkritik. Gegen Ende dieses außergewöhnlichen Projekts, Kritikfähigkeit zu überprüfen, beantragten 16 Lehrer des besonders stark betroffenen Fuldaer Domgymnasiums ihre Versetzung an eine andere Schule. Kritikfähig!
Das Schulkritik-Portal wird sich nun in ruhigeren Bahnen weiterentwickeln. Derzeit laufen Bemühungen um die Einrichtung von Standorten in den einzelnen Bundesländern. Es besteht die Hoffnung auf eine enge Zusammenarbeit mit den Landesbehörden im Hinblick auf Verbesserungen des Konfliktmanagements, was eine ausgewogene und differenzierte Betrachtungsweise voraussetzt. Hierbei werden die im „Praxistest” gewonnenen Erkenntnisse eine wichtige Rolle spielen.
„Reform von unten” scheint noch spannend zu werden!
Dr. Gerhard Rudi Pelz