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Bildungskontext – Psychische_Gewalt_A

Lehreraggressionen gegen Schüler (Teil 1)

Aggressives Verhalten von Schülern ist ein zentrales Thema bei der Lehrerausbildung. Lehrer müssen lernen, Ursachen und Auslöser aggressiver Verhaltensweisen einzuschätzen und verantwortlich zu reagieren. Daß jedoch auch manche Lehrer ihre eigenen Aggressionen an Schülern auslassen, wird allzu selten thematisiert.

Das Ansehen des Lehrerberufs befindet sich auf einem Tiefpunkt. In zahlreichen Umfragen belegen Lehrer zusammen mit Politikern die letzten Plätze. Dies bedeutet einen starken Autoritätsverlust. Immer mutigere und unerschrockener auftretende Eltern und Schüler begrenzen die früheren Möglichkeiten zur Disziplinierung. Nach dem Verbot der Anwendung von physischer Gewalt (Schläge, Prügelstrafe) verblieb als legales Machtmittel allein die Notengebung – und selbst diese ist in ihrer Wirkung verblaßt. Gefragt sind daher wirksame Alternativen.

Gewaltausübung ist in unseren Schulen leider nicht verschwunden, sondern eine alltägliche Erscheinung. Täter oder Betroffener kann prinzipiell jeder sein, doch nahezu alle Meldungen beziehen sich auf das unangemessene Verhalten von Schülern gegen Mitschüler oder Lehrer. Schüler gegen Lehrer? Dies würde bedeuten, daß Personen mit geringer Macht gegen Mächtigere Gewalt ausüben. Kaum anzunehmen, daß sich hier die Mächtigeren der Macht von Ohnmächtigen unterwerfen! Und wirklich – Gewaltanwendung durch Lehrer ist mittlerweile eines der größten Schulprobleme und von gravierender Auswirkung nicht nur auf den Bildungserfolg, sondern vor allem auf die Persönlichkeitsentwicklung der betroffenen Schüler.

Natürlich handelt es sich hierbei nicht um die (verbotene) Anwendung physischer Gewalt, sondern um eine Verlagerung auf das unvergleichlich wirkungsvollere, nachhaltig prägende und weitaus schädlichere Niveau der psychischen (auf die „Seele” wirkenden) Gewalt. Solche gab es zwar auch in früheren Zeiten, jedoch in einer anderen Dimension. Die Werteskala (Grundhaltung) hat sich deutlich verschoben und was ehemals undenkbar erschien, entwickelte sich zu einer weitverbreiteten Methode. In der Öffentlichkeit wird der psychischen Gewalt – ganz im Gegensatz zur gesellschaftlichen Ächtung von körperlicher Mißhandlung – vergleichbar wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und wenn, dann stehen einige wenige, deutlich sichtbare Symptome (z. B. Bettnässen, Eßstörungen) und ihre medizinische Therapie im Vordergrund, während die Ursachen im Dunkeln bleiben.

Emotionaler Schmerz = körperlicher Schmerz!

Die Anwendung psychischer Gewalt führt zu echten Schmerzen, die jenen der körperlichen (physischen) Gewalt in ihrer Wahrnehmung entsprechen!

Was man schon anhand von Tierexperimenten vermutete, gilt nach Forschungen der Neurobiologie als nunmehr nachgewiesen: Emotionaler und körperlicher Schmerz werden im menschlichen Gehirn in identischen (phylogenetisch alten!) Schmerzzentren verarbeitet. Beide lassen sich mit denselben Substanzen (insbes. Morphium und andere Opioide; Prolactin, Oxytocin) wirkungsvoll unterdrücken und durch Elektrostimulation der betreffenden Nervenbahnen kontrollieren. Dies erklärt sowohl die körperlichen Schmerzen von depressiv Kranken, die antidepressive Wirkung von Opiumderivaten wie auch die schmerzstillende Wirkung entsprechender Antidepressiva.

Situation der Lehrer

Eltern machen immer wieder die Erfahrung, daß Lehrer gegenüber jeglicher Kritik immun erscheinen (Defizit an Kritikfähigkeit). Fehlleistungen werden in den seltensten Fällen eingeräumt, was sich aus der Situation des Lehrers als „Respektperson" vor den Schülern erklärt. Er sieht einen Zwang, sich „durchzusetzen", „keine Blöße zu geben” und „recht zu behalten", kurz: die althergebrachte Rollenverteilung (Chefgebaren) vor zunehmend selbstbewußter auftretenden Schülern und Eltern aufrecht zu erhalten – eine der häufigsten Ursachen für eskalierende Konflikte.

Kritik am Arbeits- oder Führungsstil eines Lehrers beinträchtigt stets auch dessen Selbstwertgefühl, was seine Belastbarkeit vermindert. Emotionale Regungen wie Ärger oder Angst bewirken ein Gefühl der Unsicherheit den Schülern gegenüber, die sein Verhalten nun besonders aufmerksam beobachten. Der Unterricht unter solchen Verhältnissen führt verständlicherweise zu Unlustgefühlen. Schon unbedeutende Vorgänge können zu heftigen, dem jeweiligen Anlaß nicht gerechtfertigten Reaktionen führen. Die weitere Steigerung sind aggressive Ausbrüche gegenüber einzelnen Schülern oder einer ganzen Klasse. Diese reagieren ihrerseits aggressiv, was die Situation entscheidend verschärft: Der Lehrer ist jetzt in der Lage, die (durch ihn begründete) Aggressivität der Schüler als ursächlich hinzustellen und sich selbst als Opfer zu präsentieren.

Die Erscheinungsformen von Lehreraggressionen sind sehr unterschiedlich. Offen erkennbar äußern sie sich in ihrer primitivsten Form als lautstarke Entgleisungen (Schreien, Toben, Beschimpfungen, Beleidigungen) oder als harte, repressive Maßnahmen. Zunehmende Frustration eines Lehrers führt nach alter Erfahrung zu verstärkter Bestrafung von Schülern, Erteilung schlechter Noten und damit zur weiteren Verschärfung der Konfliktsituation – eine Entwicklung, die auch der Lehrer selbst als unangenehm empfindet. Erfolgt sie doch nicht unbedingt aufgrund von Einsicht in eigenes Fehlverhalten, sondern aus der Angst heraus, hierfür selbst zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Zunehmend bevorzugt werden daher die Methoden der psychischen Gewalt. Diese sind zumeist nicht unmittelbar nachweisbar, aber von höchster Wirksamkeit und von Erziehern über einen längeren Zeitraum nahezu gefahrlos durchführbar. Angriffspunkt ist die im Kindes- und Jugendalter besonders leicht verletzbare Persönlichkeit von Heranwachsenden: Isolierung und Nichtbeachtung, Demütigung, Verspottung, Bloßstellung, Drohung, Einschüchterung, Beschimpfung, Beleidigung und ungerechte Entscheidungen zermürben einen jeden Schüler. Und die Beschwerden verzweifelter Eltern laufen regelmäßig ins Leere („geschützte Grausamkeit")!

Situation der Schüler

Welche Auswirkungen hat psychische Gewalt auf einen Schüler? In der Fachwelt überwiegt die Einschätzung, daß sich die Folgen im Vergleich zur physischen Gewalt (körperliche Züchtigung) gravierender auswirken und nachhaltig fortbestehen. Schülern werden hierdurch gleichfalls „Schmerzen” zugefügt, die viele von ihnen im Laufe ihres Lebens niemals vergessen! Bei Befragungen berichteten Erwachsene aus ihrer eigenen Schulzeit über Kränkungen und Schikanen durch Lehrer – Vorfälle, die schon mehr als 40 Jahre zurücklagen. Und manche erinnerten sich an Ungerechtigkeiten und durchlittene Demütigungen selbst aus ihrer Grundschulzeit!

Schüler sind kaum in der Lage, sich gegen psychische Gewalt zu wehren. Sie empfinden eine ohnmächtige Wut und Frustration, können und dürfen diese jedoch nicht artikulieren. Ihr seelisches Gleichgewicht gerät zunehmend aus den Fugen und ihre schulischen Leistungen verschlechtern sich. Die Wirkung geht zunächst „nach innen”: Störungen des Verhaltens, der Gesundheit und Persönlichkeitsentwicklung, Schlafstörungen, Orientierungs- und Lustlosigkeit, Depression, Resignation, Desinteresse, Verweigerung, Verunsicherung, Minderwertigkeitsgefühl, Bettnässen, Drogenkonsum (Alkohol, Nikotin, Tabletten, Rauschmittel), Eßstörungen wie Bulimie und Anorexie (Magersucht) zählen zu den häufigsten Folgen, wobei sich diese Aufzählung fortführen ließe. Doch Aggressionen stauen sich auch auf und können sich plötzlich entladen. Für psychisch gequälte Schüler ist eine erschreckende Fülle von Verzweiflungstaten dokumentiert – bis hin zu vorgetäuschtem (Mitgefühl erzwingendem) und vollendetem Suizid!

Die Erfahrung psychischer Gewalt und die eigene Ohnmacht gegenüber Ungerechtigkeit und Demütigung ist für Kinder und Jugendliche ein einschneidendes Ereignis. Schüler werden für ihr weiteres Leben geprägt und viele Verhaltsweisen von Erwachsenen sind auf negative Erfahrungen in ihrer schulischen Erziehung zurückzuführen. Aggressive Kinder wachsen zu aggressiven Jugendlichen heran, die sich zu aggressiven Erwachsenen entwickeln. Und die nachteiligen Auswirkungen werden noch immer unterschätzt. „Geschützte Grausamkeit” als Methode des staatlichen Erziehungsauftrags?